In der DDR verstaatlicht, im Nachwende-Deutschland wegen mangelnder Nachfrage fast geschlossen – die Rasierpinsel-Manufaktur Mühle ging durch viele Krisen. Ausgerechnet seit der Bart Hochkonjunktur hat, brummt das Geschäft. Wie kommt das?
„Willkommen im Sibirien Deutschlands!“ Mit diesen Worten empfängt uns Christian Müller. Tatsächlich ist es für Anfang Juni unverschämt kalt: 9 Grad plus, der Himmel dunkelgrau. „Sie sind im Erzgebirge, hier gibt es viel Schnee und durchweg tiefe Durchschnittstemperaturen.“ Also erst einmal heißen Kaffee trinken, die Jacke herausholen, ankommen.
Im Pinsel- und Bürstengewerbe kennt man sie als „die Müllers“: die Brüder Christian, 42, und Andreas, 39. Seit acht Jahren führen sie die Rasierpinselfabrik Mühle in dritter Generation. 1946 hatte ihr Großvater Hans-Jürgen Müller das Unternehmen in Stützengrün gegründet, er taufte es Mühle, „wahrscheinlich weil ihm Müller einfach zu profan war“, sagt Andreas Müller. Heute werden auf dem 7.500 Quadratmeter großen Gelände täglich 700 Mühle-Rasierpinsel gefertigt. In den vergangenen Jahren haben die Müllers das Sortiment stark erweitert. Heute erhält man bei Mühle alles, was zur Nassrasur gehört, vom Reiserasierer bis zum Gesichtswaschgel – das Geschäft brummt. 70 Prozent des Umsatzes machen sie durch Export, seit neun Jahren wächst der Umsatz zweistellig.
Trotz des aktuellen Bart-Booms befindet sich Mühle seit Jahren auf Expansionskurs – warum? Alle Männer tragen doch Rauschebart!
Christian Müller: Der Bart-Hype hat in den letzten Jahren extrem zugenommen, das stimmt. Dadurch liegt mehr Fokus auf dem Thema. Viele Männer fragen sich, was sie mit ihrem Gesichtshaar machen können. Es gab noch nie so viele Geschäftsmodelle um das Thema: Von Barber Shops über Bartöl-, Bartbürsten-, Bartpflegehersteller. Schauen Sie mal auf Kickstarter, wie viele Projekte sich dort um die Nassrasur drehen – viele sammeln für die Produktion von Rasierhobeln mal eben 100.000 Euro zusammen.
„Manche behaupten, der Mann wurde durch die Erstarkung der Frauen seiner Männlichkeit enthoben, deshalb zeigt er diese jetzt mit dem Bart. Tja, ich weiß nicht. Wenn jemand keine Nischen hat, in denen er seine Männlichkeit zeigen kann, dann ist er doch selbst schuld!“
– Andreas Müller
Es gibt viele Thesen, warum der Bart seit ein paar Jahren so stark im Trend liegt. Wie lautet Ihre?
Andreas Müller: Das hat viel mit Sehgewohnheiten zu tun. Wenn früher jemand mit Vollbart daherkam, dachte man: Igitt! Heute hat man sich daran gewöhnt. Es ist hip, sieht gut aus. Ob es die Schlaghosen oder die Schulterpolster sind – es kommt alles in Wellen. Natürlich gibt es auch diejenigen, die tiefer graben wollen, und zum Beispiel behaupten, der Mann wurde durch die Erstarkung der Frauen seiner Männlichkeit enthoben, deshalb zeigt er diese jetzt mit dem Bart. Tja, ich weiß nicht. Wenn jemand keine Nischen hat, in denen er seine Männlichkeit zeigen kann, dann ist er doch selbst schuld!
Schon im Alten Rom wurde die erste Rasur als religiöses Ritual gefeiert. Können Sie sich an Ihre erinnern?
AM: Klar, die ging gut! Viele haben da ja ihre Probleme, wie wir immer wieder merken. Erzählen wir heute etwas über die Rasur, zum Beispiel in unserem Laden in Berlin, dann stehen da 60-Jährige und hören gebannt zu. Die wenigsten halten sich für Rasurexperten, die meisten fragen eher ganz schüchtern: Hmmm, mache ich das richtig?
Was wird denn falsch gemacht?
CM: Beim Systemhobel kann man nicht viel falsch machen, beim Rasierhobel dafür jede Menge. Da sollte man etwas achtsamer sein, die meisten lassen den Bart nicht richtig weich werden. Man sollte den Schaum drei Minuten gründlich einmassieren, das scheint lang – aber dann geht es flott. Einfach mit dem Rasierer drüber und gut ist. Viele sind zu ungeduldig und wundern sich dann, dass sie Rasurbrand kriegen oder ihnen die Haare einwachsen.
AM: Wir sagen immer: Was ist der Feind einer guten Rasur? Die Hast!
Gibt es geografische Rasur-Unterschiede?
AM: Große, ja. Bei den Asiaten zum Beispiel gibt es keine Rasurtradition, einfach weil denen wenig Bart wächst. Bei den Japanern und Koreanern wächst noch am meisten, bei den Chinesen und Südostasiaten geht hingegen nicht viel. Man kennt die alten Darstellungen von Chinesen, die sich diese langen Barthaare wachsen ließen. Wuchs denen ein Haar, schnitten sie es nicht ab, sondern züchteten es. Für die war es ein Glücksbringer. Da ist heute natürlich ein großer Mentalitätswandel gefragt, wenn es plötzlich heißt, man müsse sich alles abrasieren und eine Rasur sei eine Zeremonie. Bei den Arabern und Türken wird weniger zu Hause rasiert, viele gehen alle paar Tage in Herrensalons. So war das in Deutschland auch. Bis Gillette um 1900 mit dem ersten Nassrasierer kam – plötzlich konnte man sich daheim rasieren und ein gigantischer Markt war geschaffen.
Sie haben hier in Stützengrün eine Art Mini-Museum eröffnet mit zahlreichen Exponaten aus 200 Jahren Rasur-Geschichte. Gab es in dieser Geschichte auch Krisen?
CM: Nach dem Krieg, ja. In den 50ern und 60ern wurde die Trockenrasur stärker als die Nassrasur. In den 70ern kamen die Klingensysteme, der Rasierer wurde zum Wegwerfprodukt – alles war fortschrittlich, man flog zum Mond, wollte alle Neuerungen mitnehmen. Mit der traditionellen Rasurkultur hatte das nichts mehr zu tun. Selbst nach der Wende bis Mitte der 90er hat sich niemand für Rasierpinsel interessiert. Fragte man im Handel danach, gingen versteckte Schubladen auf und zum Vorschein kamen angestaubte Teile, die schon seit 15 Jahren darin herumlagen.
„Die Messebesuche in den 90ern waren hart: Alle standen da in ihren schicken Anzügen und dazwischen wir Ossis, in schrägen Klamotten und mit primitivem Messestand. Es interessierte sich rein niemand für uns.“
– Andreas Müller
Eine harte Zeit für Mühle…
AM: Vor allem die Messebesuche! Als wir in den 90ern zur Beautyworld nach Frankfurt fuhren, wo die großen Depotfirmen wie Hugo Boss ausstellten und die Leute in ihren schicken Anzügen standen – das war hart. Dazwischen wir Ossis, in schrägen Klamotten und mit primitivem Messestand. Es interessierte sich rein niemand für uns. Wir kamen uns total verloren vor. Unser Vater zog von Stand zu Stand, versuchte, seine Produkte zu verkaufen. Jeden Tag aufs Neue überlegte er, ob er hinschmeißt. Doch er hielt durch. Um die Jahrtausendwende herum ging es langsam bergauf.
Das Bürsten- und Pinselgewerbe im Erzgebirge
Bis zum Zweiten Weltkrieg galt das Erzgebirge als Deutschlands Hochburg des Bürsten- und Pinselgewerbes. Mit der deutschen Teilung verstreute sich das Gewerbe deutschlandweit. Mühle ist einer von wenigen Betrieben, der sich in der Gegend halten konnte. Heute sind einige Mühle-Mitarbeiter Enkel von Angestellten der ersten Firmenstunden.
Ihr Großvater gründete Mühle 1946, innerhalb weniger Jahre baute er weltweit einen Vertrieb auf. Wie hat er das gemacht?
AM: Er muss ein begnadeter Geschäftsmann gewesen sein. Er war Berufssoldat, kam aus der Kriegsgefangenschaft und wusste nicht, was er machen sollte. Im Erzgebirge gab es damals viel Bürsten- und Pinselhandwerk – nur keine Rasierpinsel. Also dachte er: Ok, Rasierpinsel, das wird’s! Und das war der Osten Deutschlands, selbst in den 60ern herrschten hier die absoluten Nachkriegsbedingungen. Doch er war ambitioniert, das sieht man an der Geschäftskorrespondenz, die er führte – wie er formulierte, die Werbung, die er im begrenzten Umfang machte. Er hat zum Beispiel Produktbeileger entwickelt mit Garantieversprechen. Das war clever. Und die internationalen Märkte hat er sich durch seinen Buchhalter erschlossen. Dessen Vater war in Rente, sprach sehr gut Englisch und Französisch. Erhielt unser Großvater einen Brief in diesen Sprachen, gab er den dem Buchhalter mit, der Vater übersetzte und mein Großvater konnte seine übersetzte Antwort bereits am übernächsten Tag rausschicken. Das war für die damalige Zeit sensationell schnell.
1965 verstarb er im Alter von 53 Jahren und Ihr Vater musste übernehmen.
CM: Das war furchtbar für ihn. Unser Vater studierte Maschinenbau in Chemnitz und hatte andere Pläne für sein Leben. Er war erst 23, plötzlich sollte er schnell seine Diplomarbeit schreiben und hier die Verantwortung übernehmen – die absolute Überforderung. Irgendwann kam er in den Tritt, wollte die Firma vergrößern, fing an zu bauen. Als er fertig war, kam die zweite Verstaatlichungswelle der DDR 1973. Das Unternehmen wurde Volkseigentum – und alles war weg.
Was tat er?
AM: Er gewann Distanz. Er war bei einem großen Bürsten-Kombinat tätig: VEB Bürstenwerke Schönheide, da haben etliche Betriebe dazugehört. Er durfte weiterhin hier am Standort arbeiten, doch ein Büro weiter saß der Geschäftsführer seiner eigentlichen Firma. Bis Mitte der 80er hat er das mitgemacht – dann ging er erneut in die Selbstständigkeit.
Und dann kam der Mauerfall.
AM: Niemand wusste, was jetzt kam. Irgendwann stellte mein Vater den Reprivatisierungsantrag. Doch er dachte: Rasierpinsel, das wird nichts mehr. Niemand interessierte sich dafür, von 40 Mitarbeitern konnte er nur drei übernehmen. Er teilte sich das Gelände mit meinem Onkel, der alles verkaufte, was es bis dahin im Osten nicht gegeben hatte: Rasenmäher, Motorsägen, Baumaterialien. Weil es keinen wirklichen Verdienst gab, kaufte meine Mutter sich einen Computer und fing an Werbebeschriftungen für Auto- und Möbelhändler zu machen. Damit hielt sie uns über Wasser. Erst um 1993 herum wurde das Geschäft mit den Pinseln besser und unser Vater konnte langsam die Leute wieder einstellen, die er vorher entlassen musste. Mittlerweile arbeiten wir mit Enkelkindern von Personen zusammen, die mit unserem Großvater die Firma aufgebaut haben.
Was haben Sie als erstes verändert, als sie 2007 übernahmen?
AM: Ich kam neu in die Firma und hatte keine Ahnung, welchen Umsatz welcher Artikel erbrachte. So konnte ich ganz unvoreingenommen sagen, welche ich unpassend fand. Christian und unser Vater ließen mir freie Hand. Wir bauten das ganze Mühle-Sortiment neu auf. Wir wollten nicht mehr nur Pinsel herstellen, sondern alles, was zur Nassrasur gehört. Außerdem wollten wir zu einer Marke werden und wir glaubten, dafür alles unter einem Dach machen zu müssen.
CM: Es gibt die Liste der Hidden Champions, der deutschen Weltmarktführer, auf der sind wir drauf. Teilweise sind das Unternehmen aus Branchen, die man gar nicht kennt. Was aber alle verbindet: Sie machen alles selbst. Das ist wahrscheinlich das Gegenteil von dem, was man heute an den Wirtschaftshochschulen lernt. Dort heißt es ja: outsourcen, flexibel bleiben, weniger Kapital binden. Wir aber haben gemerkt, je mehr wir selbst machen, desto erfolgreicher ist das Geschäft.
„Mit „Made in Germany“ hat man in allen Ländern der Welt einen unglaublichen Vertrauensvorschuss. Man geht davon aus, dass alles klappt – das ist der deutsche Ruf in der Welt.“
– Christian Müller
Wie wichtig ist bei Ihren Erfolgen „Made in Germany“ als Prädikat?
CM: Unglaublich wichtig. Doch man hat nicht nur Standortvorteile. Wir leben auf einem gewissen Niveau in Deutschland und das ist gut. Aber die bürokratischen Hürden, das Statistische Landesamt, das Statistische Bundesamt, was der Zoll alles sehen will – das ist mittlerweile gigantisch.
AM: In vielerlei Hinsicht sind diese Hürden auch gut, tun der Umwelt gut, aber manchmal ist es einfach zu schwierig. Da schneidet sich jemand beim Paket Auspacken mit dem Teppichmesser in den Finger, dann kommt die Berufsgenossenschaft und sagt, Ihr dürft keine Teppichmesser mehr benutzen! Das geht meines Erachtens zu weit. Eine Maschine selbst zu konstruieren und zu bauen, ist in Deutschland mittlerweile eine Riesen-Hürde. Der Spezialmaschinenbau hat es unheimlich schwer. Im Grunde kann man nur noch Standardanwendungen verkaufen, die ein wenig spezialisiert sind für den individuellen Zweck. Aber damit macht man keine einzigartigen Produkte.
Und was sind die Standortvorteile?
CM: Mit „Made in Germany“ hat man in allen Ländern der Welt einen unglaublichen Vertrauensvorschuss. Die Unternehmen gehen davon aus, dass Du gute Qualität lieferst, dass Du schnell liefern kannst, dass wenn es Probleme gibt, diese aus der Welt geschafft werden, dass es kompetente Ansprechpartner gibt. Man geht davon aus, dass alles klappt – das ist der deutsche Ruf in der Welt.
Arbeiten Sie nach einer bestimmen Firmenphilosophie?
AM: Wir haben eine eigene Werteverfassung erstellt, die umfasst zehn Punkte und die muss jeder unterschreiben. Darin geht es um das Zwischenmenschliche, die Menschen, die hier arbeiten, fangen morgens um 6.15 Uhr an, das wollen die so. Und das ist ja eine Aufgabe, jeden Werktag des Jahres diese immer gleichen Arbeitsschritte zu machen. Wir wollen, dass sie das gerne tun, gerne hierher kommen, einen Sinn in ihrer Arbeit erkennen und stolz darauf sind.
Das lässt sich schwer durch eine Unterschrift manifestieren.
AM: Nein, aber man kann eine Art und Weise festlegen, wie man miteinander umgeht, Kritik übt, sich hierarchisch aufstellt. Hier sagt jeder Du zueinander. So entsteht ein Klima, in dem man gut arbeiten kann. Wenn es das nicht gibt, kommen die Leute nicht gern her, es entsteht Druck, die Menschen fühlen sich nicht wohl. Und wenn die Menschen sich unwohl fühlen, kann nichts Gutes entstehen.
Wo wollen Sie mit Mühle in zwei, in fünf, in zehn Jahren stehen?
AM: Das machen wir nicht mehr! Schon so oft standen Christian und ich uns gegenüber und sagten: Jetzt ist nicht mehr viel Luft nach oben. Der andere nickte. Und dann haben wir wieder den Umsatz verdoppelt. Es gibt keine Masterpläne.